Kapitel 21 - Der Blick in die Zukunft:

Balance als Herausforderung in einer ­komplexen Welt

Produktivität und Stabilität sind üblicherweise schon lange nicht mehr alleiniges Ziel von Unternehmen. Zu schwierig ist es, beispielsweise die Chinesen und Inder beim Preis zu schlagen. Insofern sind deutsche Firmen in Zeiten der Globalisierung zunehmend gezwungen, vor allem über Qualität und Neuartigkeit ihrer Produkte zu konkurrieren. Und so ist es auch durchaus verständlich, dass landauf und landab immer wieder die Bedeutung von Flexibilität generell und von Innovationsfähigkeit im Speziellen hervorgehoben wird. Dass dabei die Produktivität auf keinen Fall auf der Strecke bleiben soll, wird oftmals nicht einmal mehr betont, sondern stillschweigend vorausgesetzt.

Doch wie soll das zusammen funktionieren? Unglücklicherweise liegt nämlich auch bei der Struktur von Unternehmen offensichtlich ein Zielkonflikt vor. Je mehr ein Unternehmen strukturell an Schräubchen dreht, um die Produktivität zu steigern, desto mehr werden den Mitarbeitern Freiräume und damit auch Kreativitätspotenziale genommen. Je stärker sich eine Firma der Fähigkeit zur Innovation verschreibt, desto stärker muss sie imstande sein, mit dem Chaos des Kreativen umzugehen. Oder doch nicht? Wenn wir uns den Grad der Aufgabenspezialisierung als eine der klassischen Fragen für die Strukturierung von Organisationen einmal näher anschauen, verdeutlicht sich das Balancedilemma:

Bis zu welchem Ausmaß sollen beispielsweise die Jobs im Unternehmen spezialisiert werden? Je stärker die Spezialisierung der einzelnen Arbeitsplätze vorangetrieben wird, desto mehr kann das Unternehmen Einsparungen vornehmen, indem beispielsweise die Maschinen besser auf den einzelnen Platz abgestimmt werden. Außerdem können die Mitarbeiter ihre Fähigkeiten effizienter nutzen und durch die mit der Spezialisierung zunehmende Wiederholung konstant trainieren und perfektionieren. Bei hohen Spezialisierungsgraden gibt es zumeist weniger Leerlauf der Maschinen und die Personalentwicklung kann den Bedürfnissen besser angepasst werden. Leider stehen diesen Vorzügen irgendwann große Nachteile gegenüber, denn viele Mitarbeiter sind von der Monotonie gelangweilt, ermüdet und gestresst. In der Folge begehen betroffene Mitarbeiter durch Unkonzen­triertheiten viele Fehler, was zu niedriger Qualität führt. Sie müssen Aufgaben oft wiederholen, was die Produktivität drosselt. Und drittens können mehr Fehlzeiten und höhere Mitarbeiterfluktuation entstehen, was sich beides negativ auf die Effizienz auswirkt. Ein Unternehmen muss insofern strukturell bei der Aufgabenspezialisierung eine gelungene Balance finden, wenn Maßnahmen zwar einerseits die Produktivität steigern, andererseits aber eben auch exakt gegenläufige Effekte mit sich bringen.

Sie kennen es selbst: Je mehr Aktivitäten im Unternehmen durch Routinen ersetzt werden, desto schlechter kann das Unternehmen hinzulernen und umso starrer und unflexibler wird es. Das betrifft nicht nur relativ einfache Tätigkeiten, sondern auch komplexere Tätigkeiten, zum Beispiel Softwareentwicklung oder Projektmanagement. Im Fußball kennen wir solche schwierigen Balancen ebenfalls aus ganz verschiedenen Perspektiven. War es die richtige Entscheidung von 1860 München, zusammen mit dem FC Bayern das Bauprojekt der Allianz Arena anzugehen? Heute wissen wir, dass es sich dabei um einen Fehler handelte. Die langfristige Perspektive der Arena samt des entsprechenden Investments konnte der Kurzfristigkeit der sportlichen Entwicklung nur unzureichend Rechnung tragen.

Doch warum treibt einen Verein wie Bayern München diese Unsicherheit um? Der Kern dieser Fragestellung liegt in Zielen, die sich gegenseitig zumindest teilweise ausschließen. Natürlich wollen die Bayern jeweils im nächsten Jahr Meister werden, aber sie möchten parallel auch noch in zehn Jahren erfolgreich sein. Selbstverständlich könnte man jederzeit das berühmte Festgeldkonto plündern, aber beraubt man sich dadurch nicht der eigenen Zukunftsfähigkeit? War es richtig, für die Saison 2012/13 Javi Martínez oder für die Spielzeit 2016/17 Mats Hummels für viel Geld zu kaufen oder hätte man nicht vielleicht doch in ein besseres Scouting investieren sollen?

Dieses Thema des kombinierten Umsetzens entgegengerichteter Handlungsstrategien wie auch des parallelen Erreichens sich ausschließender Ziele rückt seit einigen Jahren nicht nur zunehmend in das Zentrum der Wahrnehmung betriebswirtschaftlicher Forschung, sondern findet auch in der Öffentlichkeit breite Beachtung. So analysierte etwa der SPIEGEL 2006 in einem politischen Essay:

„Aber wer genau hinhörte, der erkannte das wahre Dilemma des bürgerlichen Lagers […]. Das bürgerliche Lager zerfällt in Reformbürger und Altbürger […]. Die einen Bürger wollen Sicherheit, Stabilität und Schutz vor Risiken, sie wollen einen starken Staat und ein soziales Netz. Die anderen Bürger wollen radikale Reformen, mehr Eigeninitiative, mehr Risiko, sie wollen weniger Staat und mehr Markt; die einen wollen immer noch ‚keine Experimente‘ wie in den fünfziger Jahren und wählen deshalb CDU, die anderen wollen ‚mehr Freiheit wagen‘ und wählen deshalb CDU oder FDP.“

Vor dem Hintergrund eines Dilemmas, welches Ausdruck entgegengerichteter Ziele ist, wird ganz analog zu den obigen Beispielen aus Fußball und Wirtschaft für die politische Führung der CDU eine problemadäquate Führungsstrategie gefordert.
Doch was ist eigentlich ein Dilemma? Das Wort stammt aus dem Griechischen (von δί-λημμα: „Doppelgriff“) und bezeichnet gemeinhin eine Situation, die zwei sich ausschließende Wahlmöglichkeiten bietet. Organisationen sollen durch Investitionen die langfristige Konkurrenzfähigkeit sicherstellen, gleichzeitig aber kurzfristig gute Quartalszahlen vorweisen. Teams sollen einen eng gesteckten Kosten- und Zeitrahmen einhalten, unterwegs aber parallel innovative Ideen für neue Patente liefern. Führungskräfte sollen ihren Mitarbeitern Raum zur Entfaltung von Entwicklungspotenzialen bieten, aber zugleich deren Arbeitsfortschritt kontrollieren. Das sind die wesentlichen Themen dieses Buches und zugleich einige der drängendsten Fragen für moderne Führungskräfte und Unternehmen.

Der Schlüssel zum Verständnis eines erfolgreichen Umgangs mit solchen Dilemmata besteht im Verständnis eines erfolgreichen Umgangs mit Balancen entgegengerichteter Handlungsstrategien. Der dilemmatheoretischen Sachlage muss also ein balancetheoretischer Lösungsansatz gegenübergestellt werden, der einen solchen Spagat ermöglicht.

Dabei wird vor allem ein Ansatz diskutiert, der diesem Umstand Rechnung tragen soll und in den letzten Jahren breite Beachtung sowohl in der Theorie als auch in der Praxis erfuhr: die Theorie organisationaler Beidhändigkeit, die im nächsten Kapitel genauer illustriert wird.